Industrie 4.0 – Schub für die Reinraumbranche
Schon mit der Wahl des Begriffs gelang ein großer Wurf. Er signalisiert, dass es sich nicht nur um etwas ganz Neues, sondern um etwas Umwälzendes handelt. Steht doch die Zahl 4 für die vierte industrielle Revolution.
Die erste industrielle Revolution nahm vor knapp 300 Jahren mit der Erfindung der Dampfmaschine ihren Anfang. Ab den 1870-er Jahren mündete sie dann mit der Hochindustrialisierung und der dank elektrischer Energie möglichen Massenproduktion von Gütern in Revolution Nr. 2. Bis zur dritten industriellen Revolution, der digitalen Revolution, sollte es dann rund 100 Jahre dauern: Ab 1970 entwickelten sich Elektronik und IT so stark, dass sie zu bis dahin ungeahntem Automatisierungspotenzial in der Industrie führten. Rechenleistungen, für die bis dahin Großcomputer notwendig waren, ließen sich mit immer kleineren und günstigeren Geräten erreichen.
Jetzt also Revolution Nr. 4, offiziell ausgerufen von der deutschen Bundesregierung, die ihrer High-Tech-Strategie vor rund fünf Jahren den Namen Industrie 4.0 gab (die Null am Ende ist dabei an die bei Software übliche Nummerierung angelehnt). Das Internet ermöglicht das Zusammenwachsen von realer und virtueller Welt zu einem „Internet der Dinge“. Dessen Anwendungsmöglichkeiten scheinen unbegrenzt: Für den Alltag werden Szenarien entworfen, in denen Kühlschränke selbstständig Milch und Butter bestellen, im medizinischen Bereich denkt man an unter die Haut gepflanzte Sensoren, die sämtliche Vitaldaten automatisch überwachen und die Medikamentenzufuhr steuern.
Auch die Arbeit in Reinräumen wird sich durch die technischen Möglichkeiten der Industrie 4.0 drastisch ändern. Aus der Mensch-Maschine-Kommunikation wird die Maschine-Maschine-Kommunikation, Steuerungen lassen sich immer feiner justieren und besser überwachen.
So schön diese technologische Zukunft auch werden mag, sie ist weder alleinseligmachend, noch entwickelt sie sich automatisch. Der entscheidende Faktor ist und bleibt der Mensch. Und der ist, das zeigt die Geschichte, eher auf Evolution als auf Revolution angelegt.
Schon der Begriff „Vierte industrielle Revolution“, mit dem ja so gerne gearbeitet wird, muss hinterfragt werden. Ist das, was hier passiert, tatsächlich eine Revolution oder sind die neuen technischen Möglichkeiten nicht eine logische Konsequenz dessen, was sich seit vielen Jahren entwickelt? Erinnert sei hier an die Smart-Grid-Technologie, die seit Jahren für die intelligente Steuerung von Energieversorgungsanlagen steht. Was wir jetzt erleben, ist zunächst einmal die Fortsetzung einer schon lange begonnenen Strategie – wenn auch mit immer besseren technischen Mitteln. Doch die Basis, auf der wir arbeiten, ist und bleibt die gleiche. Das Grundprinzip des Autos als ein Gegenstand mit Motor, Rädern und Lenkrad, der uns von A nach B bringt, gilt unverändert. Was sich ständig wandelt, sind die technischen Mittel und die Leistungsfähigkeit.
So steigert das, was jetzt Industrie 4.0 genannt wird, die Leistungsfähigkeit aller technologieorientierter Branchen – und damit auch die der Reinraumindustrie. Die immer weiter fortschreitende Vernetzung und Digitalisierung bietet einen hervorragenden Nährboden für Innovationen. Doch die kommen nicht von alleine, sondern müssen aktiv angestoßen werden. Damit Deutschland seinen Rang in der Riege der technologisch führenden Länder behalten kann, bedarf es vieler Anstrengungen von Seiten der Unternehmer und des Staates.
Der Staat und auch die EU tun gut daran, neue Entwicklungen mit Fördermitteln anzustoßen. Doch wird dabei aktuell der Mittelstand, also die tragende Säule unserer Wirtschaft, vernachlässigt. Analog zu den systemrelevanten Banken, die in der Finanzkrise mit Milliarden gestützt wurden, gibt es jetzt den Begriff der systemrelevanten Unternehmen. Das sind Großunternehmen und auch große Forschungseinrichtungen, an die die meisten Fördermittel fließen. Kleine und mittelständische Unternehmen schauen allzu oft in die Röhre. Die Bedingungen unterscheiden sich auch von Land zu Land: Wie kann es sein, dass EU-Fördermittel für ein und dasselbe Projekt in Deutschland abgelehnt und in Italien bewilligt werden? Jeder, der im Dschungel der Förderrichtlinien unterwegs ist, wird ähnliche Beispiele kennen. Hier steht die deutsche Regierung in der Pflicht, mehr für heimische Unternehmen und vor allem für kleine und mittlere Unternehmen zu tun.
Der wichtigste Part kommt allerdings den Unternehmern selbst zu. Der alte Satz: „Unternehmer ist, wer etwas unternimmt“ gilt leider nicht mehr so wie früher. Viele Unternehmer ruhen sich auf dem aus, was sie haben und scheuen das Risiko neuer Wege. Damit können sie zwar eine gewisse Zeitlang Erfolg haben, doch langfristig ruinieren sie ihre eigenen Geschäfte damit.
Hinzu kommt, dass in vielen Unternehmen Manager das Sagen haben, die weit entfernt von der eigentlichen technischen Aufgabenstellung ihres Unternehmens sind. Entscheidungen am grünen Tisch mögen zwar oft eine betriebswirtschaftlich nachvollziehbare Basis haben, ihnen fehlen aber meist die Visionen, ohne die kein Unternehmen gedeihen kann. Das gilt auch für die Veränderungen, die die neuen technischen Möglichkeiten mit sich bringen. Vielen Unternehmen fehlen hierzu noch die Konzepte für die Umsetzung.
Den wichtigsten Part spielen dann die Mitarbeiter. Sind sie entsprechend aus- und weitergebildet? Sind sie motiviert? Die Ergebnisse, die das Gallup Institut Jahr für Jahr veröffentlicht, machen wenig Mut: 68 Prozent der Beschäftigten in Deutschland machen demnach Dienst nach Vorschrift, 16 Prozent haben bereits innerlich gekündigt. Nur 16 Prozent sind mit vollem Engagement bei der Sache. Andere Zahlen gehen davon aus, dass lediglich fünf Prozent der Mitarbeiter den Laden wirklich schmeißen, bei 70 Prozent würde man es gar nicht merken, wären sie plötzlich nicht mehr da. Ernüchternde Zahlen, die jeden Chef zum Umdenken bringen sollten. Gerade in Zeiten, in denen neue Technologien neue Arbeitsweisen erfordern, müssen die Mitarbeiter auf Kurs gehalten werden.
Gerade jüngeren Leuten mangelt es häufig an Intuition, wenn es um wegweisende Entscheidungen geht. Woran liegt das? An der Ausbildung und der Erziehung. Fakt ist, dass junge Leute heute viel weniger Möglichkeiten zum Probieren haben. Eingebettet in ein Korsett aus organisierten Freizeitbeschäftigungen (Stichwort: Helikoptereltern), reglementierten Unterrichtszeiten und schier unbegrenzten Ablenkungsmöglichkeiten, lernen sie kaum, Verantwortung zu tragen. Zu diesem, für einen erfolgreichen Unternehmer unabdingbaren Lernen, gehört auch die Möglichkeit, Fehler zu machen.
Wem ist hier ein Vorwurf zu machen? Der Jugend sicher nicht. Eher der älteren Generation, die nicht loslassen kann. Wer möchte, dass sein Unternehmen langfristig Bestand hat, muss dem Nachwuchs eine Chance geben. Denn die jungen Leute sind mit all den technischen Dingen aufgewachsen, die für die Generation davor neu und umwälzend waren. Wer mit dem Wählscheibentelefon aufgewachsen ist, sieht das Smartphone immer noch als kleines Wunderwerk. Deshalb müssen diejenigen, die mit dem Smartphone aufwachsen, die Weichen für seine Weiterentwicklung stellen – wohin sie auch immer führen mag.
Wann immer wir über den technischen Fortschritt nachdenken – ob unter dem Namen Industrie 4.0 oder nicht – sollten wir auch sehen, was nicht ganz rund läuft. Dazu zählt zum Beispiel die Geschwindigkeit, mit der neue Produkte auf den Markt geworfen werden, gleich, ob sie ausgereift sind oder nicht. Aus dem Computerbereich kennen wir den Begriff der Bananensoftware – sie reift beim Kunden. Der Hersteller spart teure Testläufe und bessert erst nach, wenn die Anwender sich beschweren.
So etwas darf es in der Reinraumbranche nie geben. Wer im gesundheitsrelevanten Bereich arbeitet, muss zuverlässige und sichere Produkte anbieten, zumal ja das Internet der Dinge viele Möglichkeiten gibt, von außen in Abläufe einzugreifen. Denken wir an alles, was wir über selbstfahrende Autos hören: Hacker können per Smartphone die Steuerung übernehmen, bremsen, Gas geben.
Bei Reinräumen darf so etwas nicht passieren, wie groß der Wettbewerbsdruck auch sein mag. Zuverlässigkeit und Sicherheit stehen hier an erster Stelle. Wenn wir diesen Grundsatz weiterhin beherzigen, dann stehen die Chancen gut, dass die Industrie 4.0 auch unserer Branche einen weiteren Schub gibt. Schließlich wächst der Bedarf unaufhaltsam. Die immer intensiveren interdisziplinären Vernetzungen von Technologien und die rasant zunehmende Substitution von Werkstoffen bringen neue Aufgaben in die Reinräume. Denken wir beispielsweise an das Überfluten von Oberflächen für kratzfeste optische Schichten oder die Herstellung von Schmerztherapie-Pflastern, die die medizinischen Wirkstoffe punktgenau abgeben. Diese Entwicklung geht quer durch die Branchen, seien es GMP-relevante (engl. Good Manufacturing Practice) Bereiche oder Bereiche wie der Mechanik, Optik, Kunststofftechnik und Elektronik: Überall wachsen die Einsatzmöglichkeiten für Reinräume.
Trotz dieser glänzenden Aussichten für die Branche ist klar: Nur die Unternehmen, die sich den Zukunftsaufgaben offensiv stellen, werden am Markt bleiben.
Industrie 4.0 ist ein wichtiger Meilenstein in dieser Entwicklung. Doch es wird nicht der letzte sein.